Wenn die Welt dann am 10. Februar 2012 untergeht

Deichkind, Die Türen und Kettcar veröffentlichen neue Platten, alle am gleichen Tag. Zufall?

Deutsches Land, 2012. Alles ist so wie immer, nur noch viel schlimmer. Die Welt ist in Aufruhr, Hiobsbotschaften überschlagen sich: Eurokrise, Überwachungsstaat, Marginalisierung der Lebensverhältnisse auch hierzulande. 2012 soll die Welt ja ohnehin untergehen. Nun haben wir aber erst Februar, und wie der Zufall es will, veröffentlichen am gleichen Freitag in diesem kalten Monat drei Bands ihren Kommentar zur derzeitigen gesellschaftlichen Lage: auf Video, durch Songs, in Albumformat. Die heißen “Befehl von ganz unten”, “Zwischen den Runden” oder deklinieren einfach das Alphabet durch, A bis Z. Bühne frei für drei deutsche Bands, die wohl nie Ruhe geben können: Deichkind, Kettcar, Die Türen.

So beginnt die Exegese. Dancefloor, Kopfsteinpflaster, Küchenlaminat – wo werden wir uns entscheiden, und wofür?

 

Die Möglichkeit einer Insel

Befehl von ganz unten: Beef mit ganz oben

Halt’ die Deadline ein, so ist’s fein

“Do your fuckin’ job till the end”: Deichkind mit “Befehl von ganz unten”

Bunt haben es sich Deichkind eingerichtet auf den Flächen, die zuallererst sie selbst bestellen. Der Erfolg gibt ihnen recht, gigantisches Medienecho und ausgebuchte Hallen dürfen fest eingeplant werden. Enthemmte Feiern, dicke Steaks, bunte Hüte, spätrömische Dekadenz: Auch das aktuelle Update 2012 lässt keine Zweifel aufkommen, auf welchem Kreuzzug sich Deichkind befinden. Was sie vom üblichen Partygetose zwischen Neo-Schlager eines Alexander Marcus’ und Atzensause abhebt, ist der integrierte Kommentar zur Lage der Nation. Man kann das für paradox, zynisch oder oberflächlich halten. Gehen wir mal objektiv an die Sache ran.

“Danke für die Klicks, dafür können wir uns nichts kaufen”

Schon mit dem vorab veröffentlichten “Illegale Fans” tritt die Band die Flucht nach vorne an. Es ist der innere Widerspruch, dem sich alle Acts heute ausgesetzt sehen, ob Madonna, die Amigos oder eben Deichkind: Toll, dass unsere Musik so gut ankommt – scheiße, dass sie niemand kauft. Gelöst haben das alle drei Acts auf die gleiche Weise, die Tour ist die Giganto-Show, für die das Feiervolk auch gerne mehr bezahlt. Deichkind bedienen live eben ein Bedürfnis, das man nicht herunterladen kann. Dazu liefern jene aber noch mehr: Das Elektro-Kollektiv stellt sich auf die Seite seiner illegalen Konsumenten und formuliert ihnen ein Manifest: “Wir tanzen um den Feuerberg aus lodernden CDs / Die Netzwerke sind scharfgestellt in unseren WGs / dort fahren wir die Systeme hoch und rippen uns in Rage / 99 Cent für’n Track verpuffen in der Blase”. Das ist Affirmation, zu der man tanzen kann. So pendelt die Haltung auf Albumlänge zwischen Verbrüderung und Ärger: Alle verhalten sich egoistisch, darauf lasst uns feiern! Die Band, die Fans, die Industrie. Heraus kommt eine Sammlung von Attitüden, und jeder soll sich bitte bedienen: egal ob “pro Leistung” (bei all dem Geschäftssinn der Gruppe), Narzissmus (“Pferd aus Glas”), Eskapismus (in allen Songs, die “Party” schreien) und Ignoranz (“Leider geil”). Alles ist affirmativ, alles egal. Alle Mittel sind recht. Oder doch nicht?

“Wir steigern das Bruttosozialprodukt”

Auf “Befehl von ganz unten” lassen sich die Slogans kaum zählen, so viele sind es. Die Krise der Musikbranche ist eines der Themen, genauso Leistungsdruck und Ego-Mentalität unserer modernen Gesellschaft. Die einen werden das als Pastiche abwinken, mit der offenkundigem Partysound eine Relevanz übergestülpt werden soll. Deichkind sind bei Universal unter Vertrag, und über die Videoplattform tape.tv machen sie (indirekt) mit ihrem aktuellen Video auch Werbung für ein großes Gastronomie-unternehmen. Doch ist es so einfach? Wenn die Botschaften derart auf den Punkt gebracht werden wie auf dem karrieregeilen “Bück dich hoch” (“Halt die Schnauze frisch ans Werk und verdien”), erreichen schmissige Slogans ihren Empfänger. Kritik an den Zuständen bleibt, ungeachtet ihrer Vermarktung, eben Kritik. Und wer keine doppelte Bühne verdächtigt, der hört die gleichen Messages, wie sie in der taz stehen.

 

Einigkeit und Recht und Freizeit

Wo sind nur all die Idioten hin

Im Familienvorzeigekiez mitten im Prenzlauer Berg

“Es ist alles nicht so schlimm”: Die Türen “ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ”

Selbstreflexiv und glücklich dabei. So war das zumindest mal. Die Türen haben mit “Popo” 2007 ein Album veröffentlicht, das gesellschaftliche und persönliche Befindlichkeiten der Nullerjahre in unnachahmliche Popsongs bündelte. Mit einer Präzision, die sich notariell beglaubigen ließ. Na ja, fast. Mit Funk und Humor umarmten Band und Labelbetreiber in Personalunion das Gefühl, ohnehin unterzugehen. Sind wir mit dem Album, der Einfachheit einfach mal auf “ABC” abgekürzt, nun einen Schritt weiter?

“Kein Gefühl / ohne Kalkül” (“Was passiert”, Die Türen) – “Ich bleibe auch in Zeiten der Krise / Abteilungsleiter der Liebe” (“Abteilungsleiter der Liebe”, K.I.Z.)

Die neue Platte also. Den Funk haben sie (“Was passiert” darf als wunderbare Ausnahme gelten) zurückgefahren und durch klassischen Gitrarrenpop substituiert. Die wunderbaren Slogans der Vorgängerplatte, die auf charmant naive Weise die Zustände in gleichem Maße anzuprangern wie zu verteidigen suchten, es gibt sie immer noch. Aber es wird weniger dick aufgetragen. Nicht versöhnlich sind die Türen geworden, aber irgendwo im Raum von “ALG II, RTL 2 und aufstehen um zwei” scheinen die drei Berliner Ramin Bijan, Gunther Osburg und Maurice Summen ein Destillat ihrer Botschaft entdeckt zu haben. Und die ist nunmehr ein Schrei nach Liebe. Ein Hilfegesuch, eine Aufforderung – und Schlachtruf. Etwa wenn es in “Leben oder Streben” heißt: “Ich will keinen Mindestlohn / Ich will Mindestliebe”. So klingen die Türen 2012. Dabei hinterlassen sie fast den Eindruck, als wären sie vom Krieg gegen die Welt und ihre dunklen Machenschaften, gegen Politik und deutschem Stumpfsinn mittlerweile wieder ein bisschen gelangweilt.

“Meine Wünsche sind real und keine Supernova / Ich wünsch’ mir einen Wollpullover”

Die Wünsche des kleinen Mannes gehen uns alle an. Die Türen haben diese Prämisse zu ihrem Anliegen gemacht. Sie sind die Dandys auf dem Kopfsteinpflaster, die im Video zu “Rentner und Studenten” für mehr Freizeit demonstrieren, für Zuneigung ohnehin und für Verständnis. Wofür? Für so einiges, etwa das Elend unserer Zeit: “Gott ist tot / denn böse Menschen kaufen keine Lieder / sie laden nur darnieder” (“Pop ist tot”). Nur klang das selten so lustig. Ein anderes Mal erinnern sie an die eigene Jugend, wie wir sie alle erlebt haben, im besten Song der neuen Platte, der nur B-Seite geworden ist (“Das Leben ist teuer”): “Räum’ Dein Zimmer auf / Wie sieht’s denn her schon wieder auf”. Unverbesserliche Nostalgiker, die für den Generationenvertrag werben. Rentner und Studenten eben.

Vielleicht ist das der Notausgang, der grün erglimmt, wenn man bereits alles Kluge zur Lage der Nation gesagt hat. Die Türen zeigen: im Prekariat lässt es sich nicht gut leben (es sei denn vielleicht in Berlin), aber eine Platte aufnehmen zwischen Dada, Disco und ein bisschen lustvoller Subversion geht immer noch (gerade in Berlin).

Wir sind einen Schritt weiter. Wenn wir also gestern vor dem Abgrund standen, wissen wir, wo wir morgen landen.

 

Wir sind uns eine Stütze

Was wollen wir kochen

Zur aktuellen Lage

“Das Glück ist eine einfältige Kuh”: Kettcar mit “Zwischen den Runden”

“Es muss immer alles komplett verwertet werden, weil es komplett verwertet werden kann.” Natürlich spricht daraus die Kritik an Globalisierung und Gentrifizierung, an der so tragischen wie unumkehrbaren Entwicklung, die das moderne Leben, den öffentlichen Raum und den Kulturbetrieb zu Ketten wirtschaftlicher Entscheidungen gemacht haben. Kettcar sind immer noch Kettcar. So unausweichlich wie Marcus Wiebusch diese Mahnungen vorträgt, in einer Mischung aus Fatalismus, Galgenhumor und Hoffnung, so unausweichlich haben Kettcar mit “Zwischen den Runden” ein neues, viertes Kettcar-Album gemacht. Sie stehen auf der Bühne, die der Feuilleton schon früh bis in die Winkel hinein ausgeleuchtet hat.

“Wenn das der Frieden ist, musst Du den Krieg nicht noch erfinden”

Zum Vorwurf machen will man das den Hamburgern nicht. Das fällt leichter, wer hört, wie sehr es jeden der dutzend neuen Songs auf die private Ebene zieht. Davon zeugt etwa das Video zu “Rettung”, das ein Paar vom kleinen Glück ihrer Beziehung erzählen lässt. Die Umstände, wie sie sich kennen gelernt haben, münden in Beobachtungen des alltäglichen Zusammenlebens – die zwei beim Karten spielen und kuscheln. Es ist das Abbild des Lebens, seines kleinen Dramas, hinter der wir große Sinnhaftigkeit vermuten. Stellvertretend für “Zwischen den Runden”, kann man das aber auch als schlicht banal empfinden. Insofern machen es Kettcar einem nicht so leicht. Wenn man ein zweites Mal hinhört. Das ist doch ein Kompliment.

“Bitte, wo bleiben die Geigen”

Wo Deichkind zu allen Schandtaten auffordern und Die Türen sich Fragezeichen auf die Stirn kleben – da definieren sich Kettcar über die Verneinung. Jedenfalls sind die Texte oft genug eine Aufzählung dessen, was nicht ist und was eigentlich sein soll. Für diese Technik erstaunlich genug, kommen am Ende Texte heraus, die optimistisch klingen und allen Nihilismus vermissen lassen, den die beiden anderen Bands dieser Analyse mindestens streifen. Was noch immer ist: Totengesang, blauer Stunde und schicksalsschwangere Ballade. Und wenn wir uns umblicken, stellen wir verblüfft fest, dass wir in einer Pärchenküche sitzen. Es ist warm, und “Zwischen den Seilen” spielt im Hintergrund, leise.

Das Ende

Alle drei Acts haben begriffen, dass mit Musik alleine eine Existenz nicht mehr zu bestreiten ist. Die Wege, die daraufhin beschritten wurden, könnten unterschiedlicher kaum sein: wo Die Türen auf Crowdfunding setzen, um sich und ihr Label Staatsakt zu finanzieren, setzen Deichkind auf Spektakel und offensive Vermarktung – drei MCs und ein DJ ziehen als Elektrozirkus durch die Republik. Und Kettcar hören in sich selbst hinein, um das Private mit dem Politischen zu verbinden – nach wie vor auf dem eigenen Label Grand Hotel van Cleef.

Wie lässt sich also alles zusammen fassen? Die Türen sind die Dandys mit dem Glanz im Auge. Deichkind geben den Freischein zum Exzess. Kettcar liefern den Beweis, wie der Rückzug ins Private gelingen kann, ohne sich aufzugeben. Alle drei Bands stellen mit ihren neuen Platten ein Gesamtpaket, das zusammen funktioniert. Feiern, reflektieren, fühlen. Ist es so einfach? Bestimmt nicht. Aber 2012 geht die Welt ja ohnehin unter. Belassen wir es doch dabei.

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Sven Job