“Party, Bruder!” läuft im deutschen Fernsehen. Ist geil. Wir erklären alles.
Das echte Leben hält die besten und wahrsten Weisheiten parat, das ist kein Geheimnis. Sagen wir es trotzdem noch mal und betonen zugleich, dass der Kölner Sender mit den drei großen Buchstaben ohnehin immer schon am besten verstanden hat, die deutsche Realität abzubilden und ebenso zu erzeugen. Die Anfangszeiten des Privatfernsehens, der deutschen Neuzeit also, waren zunächst von Torten und blanken Brüsten geprägt, dann kamen Traumhochzeiten und 100 000 Mark. Bald gab es Fußball und Formel 1 als relevante Sportposten für alle zu erleben. Irgendwann dann saß der letztgekürte Showmaster im Land seinen Kandidaten gegenüber und befrug sie durch bis zur Million. Wir waren alle Günther Jauch. Schließlich begann im Jahr 2000 das letzte Kapitel, mit dem kleinen Schmuddelbruder zusammen, der sich für nichts zu schade ist: Big Brother. Heute haben sich Reality- und Coaching-Formate auf unterschiedlichem Niveau durchgesetzt: Restaurants werden gestest, Frauen getauscht, Wohnungen eingerichtet, Existenzen in die Insolvenz begleitet; das Jugendamt klingelt an der Haustür.
Stress mit Deinen Eltern
Bei “Party, Bruder!” klingelt kein Jugendamt. Diese Geschichten schreiben andere Redakteure – hier geht es um die schönen Dinge des Lebens. Und das Schönste ist: Wir dürfen als Zuschauer mitlachen. Anil, Bulut, Moho und Nayef sind die Brüder, zusammengewürfelt und verschweißt seit Geburt. Oder vom Redaktionsteam, das dahinter steht. Nur Steven klingt erst mal nicht danach, als würde er in diese Posse passen, aber auch er ist Immigrantenkind aus der Türkei. Also doch. Das Team hat entschieden. Die Rollen sind klar verteilt, wie es sein muss für ein Format, das Identifikationspotential bieten will: der Boss, der Charmante, der Tänzer, der Fahrer und das Model. Und oh yeah, Identifikation bieten die fünf genug, wie sie sich durchhaspeln und durchstolpern, durchgelen und die Bräute klarmachen. Wie sie immer wieder hinfallen. In Essen-Borbek (Stichwort: Totentanz), wo sie herkommen, in den Großraumdiskos der Umgebung, ach, in der ganzen Republik bis nach Berlin. Alter.
Die Realität hat ein Script
“Da stehen nur Behinderte.” – “Wir sind doch behindert!” So spielen sie sich die Bälle zu. Scripted Reality ist quatsch. Das muss das echte Leben sein, solche Sätze würde sich kein Dialogautor trauen. Entsprechend schön ist es, dem Treiben zuzusehen, wenn die Worte fließen, wenn der Sprit ausgeht (aber nie das Haargel), wenn die Jungs “Date-Roulette” spielen oder beim großen Cousin um das Auto fürs Wochenende betteln. Die Sätze müssten schon in Stein gemeißelt werden, um ihre Bedeutung weiter in die Höhe zu treiben: “Ich persönlich finde ältere Frauen auch attraktiv.” “Auch eine verschrumpelte Chili ist scharf.” “Sie muss kein besonderes Gesicht haben”. “Jedes Mädchen, das mich respektiert, wird auch von mir respektiert voll korrekt.” “Das Wochenende kommt, da darf jetzt keiner reinscheißen”. Es geht so immer weiter, aufmerksam hingehört lässt sich mehr lernen als aus der neuesten Rede zur Lage der Nation, aus offiziellen Statistiken, Günter Wallraff-Reportagen oder investigativen Essays in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
“Ich zeig’ das nicht nach außen, aber eigentlich bin ich sehr intelligent.”
Jedes Wochenende ziehen die Brüder los, sie müssen Bräute klarmachen. Sie müssen einfach, sie übernehmen das für uns. Also fahren sie bis nach Köln, Gelsenkirchen, Berlin. Stellen sie sich dumm an, dann auch nicht dümmer als wir alle anderen im “echten” Leben, haben sie Glück, freuen wir uns für sie. Denn danach wartet immer die nächste Woche: rumsitzen bei Döner und Fanta, zum Friseur gehen, einkaufen bei Saturn. Der Alltag ist banal, wie bei uns eben auch: auf den kleinen Bruder aufpassen gehört ebenso dazu wie Preise vergleichen im Einzelhandel. Dann ist wieder Freitag: Kommen wir in den Club rein? Ruft die blöde Tussi zurück? Hält die Frisur, auch in “Köln, 15 Grad”?
Der moralische Kompass ist kaputt, irgendwo in 60 Jahren Republik ist er uns abhanden gekommen. Beispiele gibt es genug, und diese sind eben anatolisch, was soll’s: Fehler werden zu charakterlichen Stärken umgedeutet: “Ich habe mich noch nie entschuldigt. Egal, was für eine Scheiße ich baue.” Mein Cousin gibt mir ein Auto nicht, nur weil ich ein anderes von ihm zu Schrott gefahren habe? Idiot, was soll man da machen? So läuft es. Spätestens wenn absolut schmuck durch die absolut schmucke Einkaufseinbahnstraße der Essener Innenstadt stolziert wird, wie es Geburtsrecht ist, prallen alle Vorurteile am Eightpack ab. Da ist er dann, der völkerverständigende Moment, negative Gedanken haben keine Chance. Eine heile Welt, auch irgendwie.
Das große Leid unserer modernen Gesellschaft wird verhandelt, darunter machen die Jungs (sagen wir: das Produktionsteam) es nicht. Stets meinen sie es ernst, wenn sie ein Mädchen ins Bett kriegen wollen etwa, und auch sonst, wenn einer zu spät auftaucht und seine Brüder warten lässt. Alles ist dramatisch, kaum zu fassen ist es. Wird der Wagen abgeschleppt, ist der Trip vorbei, ist der Türsteher ungnädig, auch. Warum ruft die dumme Schlampe jetzt an, wo ich gerade mit einer anderen Schlampe rummache? Gerade Erfolg gibt es bei “Party, Bruder!” eigentlich selten, und immer wenn mal wieder alles schief läuft, wird es hell, klug und tröstend. Auch wenn es in Essen und seinen Bewohnern total dunkel bleibt. Das Grundmotiv der Serie ist das Scheitern, nichts weniger. Die Tragödie, die uns alle wie junge Hunde hinterhecheln lässt: Ärsche, Knete, Erfolg und Glück. Aber es funktioniert nie. Tragodía: Die Griechen waren es, die uns das beigebracht haben. Jetzt erinnern uns ihre und unsere türkischen Nachbarn wieder daran. Der Misserfolg gehört zur großmäuligen, bestens gelaunten Angebe dazu wie die Applikation auf die Jeans.
“Wenn die Girls wüssten, wie wir wirklich sind, wäre nach einer Minute Tschüss”. Wir haben alles gesehen. Und bleiben dran, man muss schließlich wissen, was im Land so abgeht.
Sven Job