Oder: Hier, in San Fernando Valley, hört Dich niemand schreien – und jeder stöhnen.
Suburbia. Hinter der Fassade schlummert das Grauen. Hinter den zurecht gemachten Vorgärten, unter der müden Sonne des San Fernando Valleys herrscht Alltag. Es sind die Vereinigten Staaten im Jahr 2011, es ist das urbane Einzugsgebiet Los Angeles, dort, wo die Glut die Westküste verbrennt. Hinter dem Vorhang einer normalen Welt haben im schon lange andere Zeichen den Platz der Normalität eingenommen: Blowjob, Gangbang, DP, ass to mouth. Alltag und der Versuch, der verdammten Langeweile eines geordneten Lebens zu entkommen. Irgendwie muss es doch gehen. Was könnte daran, bitte, nicht normal sein?
“San Fernando Valley” ist Titel des Stücks, vom Kollektiv 52°43′N 19°42′E Project nun zur Bühnenreife gebracht und jüngst erst in Köln, dann im Kulturausbesserungswerk Leverkusen seine Premiere erfahren hat. Es ist das zweite Stück in einer Tetralogie, die das Faszinosum Amerika zu begreifen versucht: Gewalt und Schuld, Sex und Pornographie, Religion und Heiligsprechung, und schließlich: ein neues Utopia, Ruhm und Fame.
Eine Gruppe junger Schauspieler um den Regisseur Wojtek Faruga hat sich zusammen gefunden, um also die elementaren Topoi unserer heutigen Zeit zu betrachten, zu thematisieren, auseinander zu nehmen. Globalisierung? Ja, bitte. Glaube und Lust, Macht und Zukunft: Unsere Sehnsüchte sind mittlerweile mehr und mehr global vernetzt. Gleich geschaltet, gar? Es vielleicht gar nicht so abwegig, eine Verbindungslinie zu ziehen von der polnischen Ursprungsstätte zum Land der Sehnsüchte: im tiefsten Kern sind beide Länder tiefreligiös und gleichzeitig von tiefen gesellschaftlichen Konflikten erfasst. Wo Licht, da ist auch Schatten. Und wenn diese Konflikte ans Tageslicht treten, wird es Tote geben.
Ein kurzes Gespräch
Lawine Tell us about some inspirations for your piece.
Agata Sasinowska We found a story from LIFE about Josef Fritzl. He prisoned his daughter in the cellar. We found it’s a kind of pornography.
Wojtek Faruga There was a rumour that Josef Fritzl was offered a high price for his autobiography. We try to find pornography in things where people don’t see pornography. For us, Fritzl and his media career is just that: pornography. When his facebook Site has one million fans, that’s really strange. We want to think about, why people are fascinated of him so much.
If you had to label your piece not with “pornography”, but with a different word, what would it be?
Agata We do the story, but we don’t want to answer it for ourselves what it is about. Is pornography good, bad, interesting, boring?
The character’s action might be born out of boredom.
Wojtek Yeah, and this is something very characteristic about pornography. When you are watching the porn movie for the first time, you are completely excited. Every time after, the level of excitement declines. We are looking for new impulses of porn movies and every time you watch porn it is some kind of transgression. In the piece, one guy and his girl-friend try out everything, and in the end they don’t know what to do…
Agata … to get them interested in themselves. In the end, they tried everything. But it is not working.
Deep christianity and desires well hidden deep – do you see any parallels between Poland the U.S.?
Agata The more catholic the families are, the bigger the porn.
Wojtek Christianity and sexualism are always closely conntected, because for christianity, this is something bad. It is very inspiring.
Has the audience been offend by the action taking place on stage?
Wojtek It is funny. When we were in Brazil, they found our piece very critical about America. That was the first one ["Carson City"]. We’d love to go there with this one.
Agata We are going to mix with American actors. It might be interesting because these people are really different. Even if they are really open-minded, they are different. Friendship has a different meaning. For me, friends have to be closer than Facebook friends. It is a different culture and it might be interesting to do a piece about them with them.
Genau das passiert in “San Fernando Valley”. Hier treffen fromme Mitglieder der Gemeinde mit Bibel in der Hand auf gelangweilte Hausfrauen mit Pornos im Wohnzimmer. Beherrschen können sich am Ende beide nicht mehr. Pärchen gehen an ihre Grenzen, bis es keine Grenzen mehr gibt. Und dann ist da noch der Schauplatz: San Fernando Valley ist das Epizentrum der Pornoindustrie. Der Dreh “on location” ist Angelpunkt und Finale, er geht in seinem furchtbaren Ursprung zurück bis zu Josef Fritzl, der im wahren Leben seine Tochter jahrelang in einem Bunker gefangen hielt, um sie zu vergewaltigen. Vom fernen California zurück in unseren Hinterhof – plötzlich ist die Geschichte näher an uns dran, als wir das für möglich gehalten hätten.
Die Fragen, die das 52° Project aufwirft, sind fundamental, sie lassen sich in ihrer Dringlichkeit nicht ignorieren. Was macht Pornographie mit uns? Was richten Macht und Sex an, in dieser hochpotenten Kombination? Und was bleibt zu tun, wenn jeder geheimster Wunsch erfüllt, jede Sexpraktik ausprobiert, jede Grenze überschritten worden ist? Die Antworten lassen auf sich warten.
Sven Job